“Ich sehe, wie die Welt allmählich in eine Wildnis verwandelt wird. Ich höre den nahenden Donner, der auch uns vernichten wird. Ich kann das Leiden von Millionen spüren. Und dennoch glaube ich, wenn ich zum Himmel blicke, dass alles in Ordnung gehen und auch diese Grausamkeit ein Ende finden wird. Dass wieder Ruhe und Frieden einkehren werden.“ Das schrieb Anne Frank am 14. Juli 1944, ein halbes Jahr vor ihrem Tod in ihr Tagebuch.
Zu dieser Zeit versteckte sie sich zusammen mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten in einem Hinterhaus in Amsterdam. Bis zu ihrem Tod glaubte sie daran, dass die Verfolgung wegen ihrer jüdischen Herkunft und der Krieg bald ein Ende haben würden. Und sie wollte wieder in Freiheit und Frieden leben zu können. Sie hoffte auf eine Rettung durch ausländische Streitkräfte.
Es ist diese Hoffnung, die sie mit den ehemaligen Ortskräften aus Afghanistan verbindet. Diese warten seit der Machtübernahme der Taliban ebenfalls darauf, dass man ihnen hilft und sie vor Verfolgung und Terror rettet.
Hat Deutschland zu spät gehandelt?
Viele verstecken sich vor dem Talibanregime, ihnen drohen Folter oder Tod. Deutschland gab den Ortskräften ein Schutzversprechen, konnte es aber bei einer Großzahl nicht einlösen. Kann man also sagen, dass Deutschland die Ortskräfte in Afghanistan im Stich gelassen hat?
Das Leben und die Geschichte der afghanischen Ortskräfte unterscheiden sich deutlich von Anne Frank. Trotzdem gibt es vergleichbare Aspekte, die zu einem ähnlichen Schicksal geführt haben. Beide mussten untertauchen, um zu überleben.
Deutschland war nicht allein für die Zuspitzung der Konflikte in Afghanistan verantwortlich. Es hat mit allen Mitteln versucht, so viele Menschen wie möglich zu evakuieren. Dennoch stellt sich die Frage, ob die politische und militärische Eskalation, nach der Ankündigung des Rückzugs der internationalen Streitkräfte, nicht vorhersehbar war.
Hätte Deutschland deutlich früher handeln können, um sein Schutzversprechen einzulösen? Zumindest hätte das Land vielen ehemaligen Ortskräften Verfolgung und Untertauchen, wie sie auch Anne Frank erlebte, erspart.
Schutzversprechen muss eingehalten werden
Die Geschichte wiederholt sich. Es ändern sich nur Ort und Zeit, das Leid bleibt gleich. Anne Frank und die Ortskräfte aus Afghanistan sind dafür nur einige Beispiele. Der momentane Krieg in der Ukraine ist ein weiterer Beleg.
Daher ist es umso wichtiger, dass die Schicksale betroffener Menschen nicht in Vergessenheit geraten. In der Hoffnung, dass die Nachwelt solche Entwicklungen in Zukunft besser vorhersieht und verhindert. Jeder Einzelne kann dazu beitragen, indem er versucht, betroffenen Menschen zu helfen, und Hilfe politisch einfordert.
Deutschland ist verpflichtet, sein Schutzversprechen gegenüber den verbliebenen Ortskräften in Afghanistan einzulösen und die Hoffnung auf Rettung aufrechtzuerhalten. Denn: Die Hoffnung ist oft das Einzige, was Menschen am Leben hält – so auch bei Anne Frank.